Zitat
„Wer jede Lust genießt und auf keine verzichten kann, wird zuchtlos, wer aber jede meidet, wie die Griesgrämigen, wird stumpfsinnig.“[1]
Aristoteles (384-322 v. Chr.), griechischer Philosoph, Schüler Platons, Lehrer Alexanders des Großen von Makedonien
Nikomachische Ethik Buch 2 Randnummer 1104a20
Autorenporträt
Aristoteles wurde 384 vor Christus in Stageira in Griechenland geboren. Sein Vater Nikomachos war Leibarzt des makedonischen Königs, seine Mutter Phaestis stammte ebenfalls aus einer Arztfamilie. Er trat 367 vor Christus in Platons Akademie in Athen ein. Aristoteles studierte, forschte und lehrte dort. Nach Platons Tod verließ Aristoteles Athen und wurde Lehrer von Alexander dem Großen, dem Thronfolger des Königreiches Makedonien. Im Jahr 343/342 vor Christus kehrte er nach Athen zurück und forschte und lehrte eigenständig mit Schülern im Lykeion. Nach dem Tod Alexanders des Großen 323 vor Christus zog sich Aristoteles nach Chalkis ins Haus seiner Mutter zurück und verstarb dort 322 vor Christus. Er war wohlhabend und besaß eine große Bibliothek. Aristoteles war mit Pythias verheiratet und hatte eine Tochter, die den Namen ihrer Mutter trug. Nach dem Tod seiner Frau zeugte er noch einen Sohn namens Nikomachos, wahrscheinlich mit seiner späteren Lebensgefährtin Herpyllis Er hinterließ ein umfassendes Werk in vielen unterschiedlichen Disziplinen und kann als echter Universalgelehrter bezeichnet werden. Neben seinem Lehrer Platon zählt er zu den einflussreichsten Philosophen der griechischen Antike. Seine Wirkung dauert bis in die Gegenwart.
Impuls
In der Natur tritt im Frühling die Vitalität offen in Erscheinung. Man sieht, wie nach dem Winter das Leben lustvoll erwacht und die ersten Blumen aus dem Boden sprießen. Auch im Leben der Menschen ist Lust, und Sexualität eine wesentliche Größe. Ohne Sexualität, kein Leben. Christliche Autoren aus dem Mittelalter, wie Thomas von Kempten (1380-1471) raten zum Abtöten der Leidenschaften für eine wahrhaftige Nachfolge Christi: „Wer aber Verlangen trägt, in Freiheit des Geistes mit Mir zu wandeln, der muss alle seine bösen und unordentlichen Neigungen abtöten und keinem Geschöpfe aus Eigenliebe anhängen.“[2] Spirituelle Autoren aus östlichen Traditionen raten oft eine Transformation dieser Energie auf eine spirituelle Ebene mittels Meditation an. Es gibt auch östliche spirituelle Traditionen, die das Materielle und Spirituelle nicht als dualistische Gegensatzpaare sehen, sondern sexuelle Erfahrungen als positive Erlebnisse innerhalb einer ganzheitlichen Spiritualität begreifen. Es gibt sogar Strömungen, die Sexualität als mystisch-ekstatische Erfahrung sehen, in welcher sich zwei Seelen vereinigen können. Aristoteles empfiehlt im oberen Zitat einen maßvollen Mittelweg in Bezug auf die Lust.
Fragen
Was bereitet mir Lust?
Wie gehe ich mit meiner Lust um?
Wo bin ich ohne Maß?
Kann ich verzichten?
Kann ich genießen?
Wo sollte ich lieber mal verzichten?
Wo kann ich mir mehr gönnen?
Vertiefung
Die Nikomachische Ethik ist ein Schlüsselwerk der europäischen Ethik. Die Lektüre lohnt sich. Aristoteles definiert darin die charakterliche Gutheit als Tugend. Die Tugend wiederum als mittlere Disposition zwischen zwei Extremen. Dies wird im Allgemeinen als Mesoteslehre (μεσότης, griechisch „Mitte“) bezeichnet und soll im folgenden Beispiel gezeigt werden:
„Im Hinblick auf Lust (hedonē) und Unlust (lypē) – nicht in allen Fällen, und weniger bei der Unlust – ist die Mitte die Mäßigkeit (söphrosynē), das Übermaß die Unmäßigkeit (akolasia).„[3]
Im Text finden sich bei Randnummer 1107b noch weitere Beispiele:
Furcht – Tapferkeit – Mut
Geiz – Freigiebigkeit – Verschwendung
Kleinlichkeit – Großzügigkeit – Protzerei
Unerzürnbarkeit – Sanftmut – Jähzorn
falsche Bescheidenheit – Wahrhaftigkeit – Angeberei
Ungehobeltheit – Gewandtheit – Possenreißerei
Anbiederung – Freundlichkeit – Streitsucht
…
[1] Aristoteles, Nikomachische Ethik (rororo Rowohlts Enzyklopädie 55651), Reinbek bei Hamburg 52015.
[2] Thomas von Kempen, Nachfolge Christi, A-6804 Feldkirch.
[3] Aristoteles, Nikomachische Ethik.