Autorenporträt
Das Orakel von Delphi
Das Orakel von Delphi bestand wahrscheinlich zwischen dem achten bis zum fünften Jahrhundert vor Christus. Orakel und Weissagungen muten in unserer aufgeklärten und wissenschaftlich geprägten Welt vielleicht befremdlich an. In der griechischen und römischen Antike gehörten sie aber ganz selbstverständlich zum Alltag. Das Orakel lag am Hang des Parnass, einem der höchsten Berge Griechenlands in der Nähe der Stadt Delphi. Es galt in der Antike als Nabel und als Mittelpunkt der Welt. Das Orakel sprach durch eine „gottbegeisterte“ Priesterin, die Pythia. Diese saß auf einem Dreifuß, über einer Erdspalte, aus dem Gas ausgetreten sein soll und die Priesterin in eine Art Trance versetzte. Das Orakel weissagte nur an bestimmten Tagen im Jahr und nur nach einem guten Omen und einem Tieropfer. Die Priesterin musste Jungfrau sein und vor der Weissagung ein Reinigungsritual mit dem Bad in einer Quelle und dem Trinken von heiligem Wasser durchlaufen. Ärmere Ratsuchende bekamen lediglich binäre Ja- oder Nein-Antworten, welche die Priesterin durch den Griff in einen Behälter mit schwarzen und weißen Bohnen loste, zahlungsfähige Ratsuchende bekamen ganze Sätze, die aber oft rätselhaft blieben. Es ist überliefert, dass das Orakel unter anderem die Geschichte von König Ödipus voraussagte.[1]
Impuls
In allen spirituellen Kulturen und Weisheitslehren ist Selbsterkenntnis ein zentraler Schlüssel zur spirituellen Entwicklung. Ob Selbsterkenntnis durch Orakel, Beschäftigung mit Weisheitstexten, Selbstanalyse oder Meditation gefördert wird, eines ist den meisten Wegen gemein:
Es braucht dafür ein Maß an Rückzug, um die nötige innere Ruhe zu finden.
Die Burg Wildenstein diente schon den Grafen von Zimmern während Pest und Kriegen im 16. Jahrhundert mehrfach als Ort des Rückzugs. Ende 1944 zieht sich Martin Heidegger mit der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg dorthin zurück. Heute dient die Burg als Jugendherberge und somit immer noch als eine Art Rückzugsort. Selbst solche Orte des Rückzugs im Außen – oder auch im Innern zu haben -, kann sehr hilfreich sein, um aus der inneren Ruhe Weisheit und Kraft zu schöpfen.
Fragen
Wer bin ich?
Beschäftige ich mich mit Weisheit?
Was tue ich dafür, meine Selbsterkenntnis zu fördern?
Habe ich Orte, um mich zurückzuziehen?
Nehme ich mir regelmäßig Zeit für Rückzug und Besinnung?
Wie setze ich meine Erkenntnisse um?
Vertiefung In der Spiritualität des Jesuitenordens gibt es die Tradition der Exerzitien. Der Gründer Ignatius von Loyola sah es als sinnvoll an, auch für die spirituelle Entwicklung zu üben. In seinem Exerzitienbuch[2] stellt er sein Konzept vor, das für die Mitglieder des Jesuitenordens immer noch fester Bestandteil ihrer Ausbildung und ihrer spirituellen Praxis ist. Im Rückzug vom Alltag und im Schweigen können in Gebet, Betrachtung, Jesusgebet und Meditation die Selbsterkenntnis und die spirituelle Entwicklung gefördert werden. Die Mitglieder des Jesuitenordens machen jährlich Exerzitien, zusätzlich vor dem Ablegen der Gelübde auch die volle Form mit 30 Tagen Rückzug und Schweigen. Regelmäßige Exerzitien und auch kleine stille Auszeiten im Alltag können hilfreich sein. Hier sollte jeder für sich selbst herausfinden, welche Form, welches Intervall für ihn passt und wie Bausteine des Rückzugs und der Besinnung sinnvoll in den jeweiligen Lebensstil integriert werden können.
[1] Marion Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte ; Griechisch/Deutsch (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18122), Stuttgart 2001.
[2] Ignatius von Loyola, Die Exerzitien (Christliche Meister 45), Freiburg Breisgau 121999.